Europa

"Russischen Interessen völlig zuwider" – Analyst über wahre Nutznießer der Flüchtlingskrise

Viele im Westen wollen Russland hinter der Flüchtlingskrise an der Grenze zu Polen erkennen. Laut einem russischen Kenner der Region ist nichts realitätsferner als diese Behauptung. Im Gegenteil – Russland werde wider Willen in diese Krise verwickelt.
"Russischen Interessen völlig zuwider" – Analyst über wahre Nutznießer der FlüchtlingskriseQuelle: Reuters © MON/Handout

Putin und Russland werden gegen ihren Willen durch die Europäische Union (EU) in die Krise mit den Flüchtlingen an der polnischen Grenze verwickelt, sagte der russische Politikwissenschaftler und Chefredakteur des analytischen Portals RuBaltics Alexander Nossowitsch im Gespräch mit RT DE.

"Die Situation kann für Russland in vielerlei Hinsicht unangenehm werden."

Russland trage nicht nur völlig unverschuldet den Imageschaden. Die Migranten könnten statt nach Westen am Ende nach Osten umgeleitet werden, und dann müsse Russland sich um deren Aufnahme kümmern. "Auch Russland braucht derzeit keine zusätzlichen, künstlich erzeugten, ursächlich gar nicht mit Russland verbundenen Spannungen mit der EU", betont der Experte.

Obwohl die Entstehung oder die Umleitung der Migrationsströme ursprünglich keineswegs ein weißrussisches Projekt gewesen wäre, habe Minsk die Migrationskrise zu seinem derzeit wichtigsten Feld der Außenpolitik gemacht – "das können wir in den Statements der offiziellen weißrussischen Medien und regierungsnahen Experten sehen". 

"Minsk erwartet, dass die EU oder zumindest wichtige EU-Staaten wie Deutschland zur Regulierung der Migrationskrise mit der von ihnen nicht anerkannten Regierung in Minsk in Verhandlungen treten."

Dabei geht es Weißrussland weniger um die Aufhebung der EU-Sanktionen. Diese seien für das Land nicht so schmerzhaft wie behauptet, weil die weißrussische Wirtschaft inzwischen enger mit der russischen verflochten sei. Das könne sogar die Sanktionen gegen die Schlüsselbranchen der weißrussischen Wirtschaft wie etwa die Kalium-Produktion abfedern.

Die Wiederaufnahme der sogenannten multilateralen Politik, also des Balancierens zwischen West und Ost, sei aber keineswegs im russischen Interesse. "Im Großen und Ganzen lässt er (der Präsident Weißrusslands Alexander Lukaschenko) Russland im Stich. Russland trägt nur die ganzen Kosten. Wenn das Ziel Lukaschenkos ist, den Dialog mit EU-Staaten wiederaufzunehmen – was hat Russland dann davon?"

"Oder nehmen wir die Sanktionen gegen Aeroflot. Allein die Tatsache, dass diese Maßnahme in der Öffentlichkeit überhaupt diskutiert wird, ist für Moskau sehr unangenehm. Das eröffnet das Fenster der Möglichkeiten."

Die Anschuldigungen gegen Russland in Polen, aber auch in London und Berlin, die Gespräche über Sanktionen gegen Aeroflot, zielten darauf ab, dass Russland sich einmischen müsse. Das bringe aber politisch Punktgewinn nur für diejenigen, die behaupten, dass Russland der Drahtzieher sei. "Dass nicht ein kleines Land wie Weißrussland, sondern Russland die Sicherheit Europas unterminiere. Das klingt viel gewichtiger." Das habe die Erhöhung der Gelder in verschiedensten Bereichen zur Folge – vom Militäretat bis zur Aufstockung bei Sicherung der Außengrenzen. 

"Diejenigen, die dieses Spiel betreiben – Politiker und NATO-Bedienstete – denken in dieser Logik, in der Logik der Etaterhöhung vor dem Hintergrund dieser Krise. Krisen eröffnen immer die Möglichkeiten, wobei die Dividenden viel höher sind als die Gefahren."

Die Chancen, dass der Westen wegen der Krise mit Minsk Gespräche aufnehmen würde, schätzt Nossowitsch als äußerst gering ein. In Wirklichkeit habe niemand vor, diese Krise zu lösen. Die Situation, wenn polnisches Militär so medienwirksam an der Grenze zu Weißrussland steht, bringe für Polen und dessen rechtskonservative PiS-Regierung nur Vorteile.

"Die angedrohten EU-Sanktionen gegen Polen sind schon vergessen. Im Gespräch ist die Aufstockung der NATO-Hilfen für Polen, Großbritannien schickt Sondereinheiten. Auch Deutschland unterstützt immer lauter seinen östlichen Nachbarn."

Seien wir ehrlich: Wenige Tausend entlang der Grenze verstreute Migranten mit Frauen und Kindern stellten keine wirkliche Bedrohung dar, sagt der Kenner dieser Region, der im zu Polen benachbarten russischen Gebiet Kaliningrad lebt und arbeitet. "Diese Risiken sind jedenfalls viel geringer, als das, was Polen damit gewinnen würde. Panzer gegen Menschen – es ist zwar unverhältnismäßig, aber wirksam in den Augen der polnischen Wähler." 

Beim Verfassen dieses Artikels kam noch die Nachricht an, dass der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell zum ersten Mal seit Beginn der Krise mit dem weißrussischen Außenminister Wladimir Makej telefoniert hat. Die Möglichkeit, dass Minsk am Ende doch noch direkte Gespräche erwirken kann, war ebenfalls Gegenstand des Gesprächs mit dem Experten:  

"Aus Sicht von Minsk würde ein Anruf aus Brüssel oder Berlin dann ein Zeichen der Anerkennung bedeuten. Aber wenn die Europäische Union selbst das nicht so sieht, ergibt das keinen Sinn."

Auch in den vergangenen Jahren, noch vor der August-Krise (der versuchten "Farbrevolution" – Anm. der Red.) im vergangenem Jahr wäre Lukaschenko nicht wirklich anerkannt gewesen. Außerdem werde die Europäische Union niemals ein Land wie Weißrussland, einen postsowjetischen Staat in Osteuropa als ebenbürtigen Partner ansehen.

Das außenpolitische Verhalten des weißrussischen Präsidenten ist auch jetzt, nachdem die wichtigsten Vereinbarungen zur Stärkung der Integration zwischen Russland und Weißrussland im Rahmen eines Unionstaates getroffen sind, laut Nossowitsch ein Zeichen seiner Selbständigkeit. 

"Der Grad der Selbstständigkeit bei Lukaschenko ist nicht mit den Abhängigkeiten der EU- und NATO-Staaten von Brüssel zu vergleichen. Lukaschenko ist das beste Beispiel dafür, dass Weißrussland nur im Verbund mit Russland souverän sein kann."

In westlichen Bündnissen wie der EU oder der NATO könne sich kein einzelner Akteur in Osteuropa so etwas erlauben – etwas zu machen, ohne Rücksicht auf Berlin oder Washington zu nehmen –, also ohne sich Gedanken über die Reaktion jener Verbündeten zu machen, von denen man kritisch abhängig sei. Lukaschenko könne sich das erlauben, obwohl er von Russland wirtschaftlich völlig abhängig sei. "Das Maß an Freizügigkeit hat bei ihm jedes Maß überschritten. Nach der Krise wird es sicherlich Gespräche in Moskau geben", so der Experte. 

Welche realistischen Auswege aus der Krise sieht der Experte? "Das Beste, was Lukaschenko derzeit machen kann, ist, den Flüchtlingen eine Überwinterung zu erträglichen Bedingungen zu ermöglichen." Es gebe in der jetzigen Saison viele leerstehende Ferienunterkünfte, wo die Unterbringung jetzt möglich wäre.

"Diese humanitäre Hilfe würde zumindest einen moralischen Sieg über Polen bedeuten." 

Da die Flüge aus den nahöstlichen Flughäfen nun mal gestrichen seien, würden kaum mehr neue Migranten kommen. Deren Zahl werde also überschaubar bleiben. "Man könnte sich dann in dieser Zwischenzeit um eine diplomatische Lösung der Krise kümmern."

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